Die deutsche Vielfalt
Gesellschaften befinden sich in einem stetigen Wandel durch deren Dynamik aber auch wesentlich durch Zuwanderung und Abwanderung aus anderen Gebieten dieser Erde. Wohlgemerkt, Migration ist also keineswegs ein neuartiges Phänomen, sondern von Beginn an und in allen Epochen der Menschheitsgeschichte zu beobachten. Man könnte sogar vermuten, dass die Menschheit ohne Migration inzwischen selbst längst Geschichte wäre. Schließlich war die permanente Fortbewegung und Erschließung neuer Nahrungsquellen eine wichtige Überlebensstrategie unserer Urahnen.
Betrachtet man nun die zentrale Lage Deutschlands innerhalb des europäischen Kontinents, so überrascht nicht, dass in diesem Gebiet schon seit jeher Migrationsströme aus allen Himmelsrichtungen zusammenflossen. Unabhängig davon, ob es sich nur um einen temporären oder einen dauerhaften Aufenthalt handelte, hatte dieses Zusammentreffen verschiedener Kulturen, großen Einfluss auf die Entwicklung dieses Landes und bilden somit die Grundlagen für die Identität unserer heutigen Nation.
Der Beginn der Geschichte Deutschlands wird, nach aktueller Auffassung, um das 10. Jahrhundert mit der Entstehung des deutsch-römischen Kaiserreichs eingeläutet. Dieses war, nach Niedergang des fränkischen Reichs, aus dem ostfränkischen Reich hervorgegangen. Von einem „deutschen Volk“ kann nach heutiger Auffassung jedoch erst ab dem 13. Jahrhundert gesprochen werden
Um unsere Wurzeln zu begreifen, müssen wir aber noch etwas weiter in der Geschichte zurückreisen, und zwar ins 1. Jahrhundert vor Christus. Aus dieser Zeit stammt die erste Überlieferung, in der unsere Vorfahren, die „Germanen“, namentlich erwähnt werden. Obwohl damals weite Teile Europas unter die Herrschaft des expandierenden römischen Reichs fielen, blieben die Gebiete zwischen Rhein, Donau und Weichsel weiterhin von einer Vielzahl verschiedener Stämme bevölkert. Diese wurden von den Römern als Germanen und ihr Siedlungsgebiet als „Germanien“ bezeichnet. Doch bildeten keineswegs eine homogene Volksgruppe, wie die Römer glaubten. Vielmehr handelte es sich hierbei um verschiedene Stämme, die autark nebeneinander existierten und deren Angehörige sich einzig und allein mit ihrem Stamm identifizierten. Trotzdem wird auch in der heutigen Forschung die Bezeichnung „Germanen“ als Oberbegriff für diese Gruppierungen beibehalten. Als verbindendes Kennzeichen gilt hierbei in erster Linie der indogermanische Sprachstamm.
Im Vergleich zu der römischen Hochkultur waren die germanischen Stämme weitaus weniger entwickelt. Die Römer sahen sie daher als Wilde und Barbaren, hatten jedoch gleichzeitig großen Respekt vor ihrem kriegerischen Charakter und ihrem charismatischen Auftreten. Ein Versuch des römischen Reichs, zumindest einen Teil dieser heidnischen Stämme zu unterwerfen, wurde in der so genannten „Varusschlacht“, im Jahre 9 nach Christus, zerschlagen. Dieser Kampf ging somit als eine der bittersten Niederlagen des römischen Reichs in die Geschichte ein und war der Anfang dessen Endes. Der Sieg auf Seiten der Germanen wurde vor allem dem cheruskischen Fürsten Arminius zugeschrieben. Er war als Kind aus Germanien entführ und als vorbildlicher Römer erzogen worden. Aus Gefühlen der Solidarität seinem ursprünglichen Volk gegenüber, hatte er heimlich die germanischen Stämme vereint und gegen die Römer in den Kampf geführt. Tacitus, ein römischer Senator und Geschichtsschreiber, bezeichnete Arminius daher als „Befreier Germaniens“. Lange Zeit, und insbesondere im dritten Reich, wurde Herrmann der Cherusker, wie Arminius später auch genannt wurde, als Urtyp und Sinnbild eines „reinerbigen“ Germanen glorifiziert. Doch auch wenn das Bild des ehrenhaften Kriegers mit ungebrochenem Willen immer noch omnipräsent ist, entspricht diese Darstellung nicht mehr der heutigen Auffassung Denn die Forschung legt nahe, dass es den Germanen als reinerbigen Vorfahren der Deutschen so niemals gegeben hat. Der Grund hierfür sind die bereits erwähnten Einwanderungswellen, die schon seit Urzeiten immer wieder in Mitteleuropa stattgefunden hatten. Somit müssen auch bereits unsere germanischen Vorfahren, darunter auch Arminius, Erbgut aus den verschiedensten Teilen dieser Erde in sich vereint haben.
Wie schon erwähnt, bewirkten vor allem auch die Völkerwanderungen zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert das Zusammentreffen und auch das Vermischen der verschiedenen Volksgruppen und Kulturen auf dem mitteleuropäischen Kontinent.
Hierbei handelt es sich um eine Reihe von Wanderbewegungen spätgermanischer Stämme in vorwiegend westliche Richtung. Angestoßen wurden diese um das Jahr 375, nachdem die zentralasiatischen Hunnen (ein mongolisches Reitervolk) in germanisches Gebiet vorgedrungen waren. Auch andere Volksgruppen, wie z.B. die Slawen und Kelten, sahen sich nun gezwungen, ihre einstigen Siedlungen zu verlassen und neue Lebensräume zu erschließen. Die hierdurch ausgelöste Kettenreaktion mündete in einer völligen Umstrukturierung Europas. Somit bewirkte die Völkerwanderung nicht nur den allmählichen Niedergang des römischen Kaiserreichs, sondern ebnete auch den Weg für die Entstehung des heutigen Deutschlands.
Es zeigt sich, dass sich im Laufe der Geschichte bis in die Neuzeit, ähnliche Ereignisse stets wiederholen. Kriege brechen aus, Migrationsströme entstehen, territoriale Grenzen verschieben sich und Machtverhältnisse werden neu strukturiert.
Der Prozess der Entstehung des deutschen Volks war also ein dynamischer Prozess, bei dem verschiedene Faktoren berücksichtigt werden müssen. Er wurde vor Jahrtausenden in Gang gesetzt und schreitet auch in der heutigen Zeit noch voran. Also lässt sich weiterhin bemerken, dass es ein reinerbiges deutsches Volk mit reinerbigen Vorfahren nie gegeben hat. Zu einer Einheit verschmolzen, war jedoch jede einzelne dieser kulturellen Strömungen an der Bildung unserer deutschen Identität beteiligt und brachte somit wiederum etwas Einzigartiges hervor. Es lässt sich auch zwingend vermuten, dass diese genetische Vielfalt der Boden war für den Ruf im Ausland: „Deutschland, das Land der Dichter und Denker“
Irina Schatten